Ich bin wieder da...
So, wie ich noch nie "da" war.
So Vieles ist passiert. Abgrund und Hölle. Positives. Haltvolles. Unglaubliches, nie für möglich Gehaltenes.
Dankbar...
Auch das will ich teilen, denn es ist es wert. Mehr als das. Wahrscheinlich werde ich es mit Worten nicht annähernd beschreiben können, doch es ist es wert nicht nur in mir drin zu wirken.
Eine Kundin hatte mir einmal erzählt, dass eine tiefe Depression sie so weit gebracht hatte, dass sie nur noch an den Tod dachte und nur noch sterben wollte. Ich hatte mir das nicht real vorstellen können, dass derartige Gedanken so mächtig sein und über den Verstand hinaus wachsen könnten. In den Tagen nach meinem letzten Post aber ging es noch so viel tiefer hinab in meine schwarze Hölle, dass ich es letzten Endes verstehen lernte. Jeden Tag kamen mehr Gedanken an Tod in meinen Kopf, nicht mehr nur vereinzeit, nein, immer mehr, immer präsenter, immer stärker, sie ließen sich nicht mehr wegschieben. Ich wollte nur noch aufgeben dürfen... nicht mehr jede Sekunde meines Lebens kämpfen müssen...
Auch wenn ich glaubte, dass ich es schaffen würde die entsprechende Konsequenz nicht zu ziehen, ich hatte furchtbare Angst und unendlichen Druck in mir. Alles in mir kämpfte und kämpfte ununterbrochen, dann auch noch diese beängstigenden Gedanken, ich hatte das Gefühl innerlich zu platzen. Und bat meinen Arzt um Hilfe. Ohne zu wissen, wie sie aussehen könnte, ich wusste nur: Alles was ich jemals vorher mit den Worten "ich kann nicht mehr" beschrieben hatte war nichts im Vergleich zu meiner jetzigen Verfassung und zum ersten Mal in meinem Leben bat ich tatsächlich um Hilfe.
Einige Tage später entschloss ich mich, sein Angebot anzunehmen, und ließ mich in die örtliche Psychiatrie einweisen. Es war die wichtigste Entscheidung meines Leben. Sie hat mir "mein Leben gerettet", in einer anderen Hinsicht als man es nach meinen Vorworten auffassen könnte. Ob ich meine Todesgedanken in die Tat umgesetzt hätte... ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Der abhaltende Faktor, mein Mann, hatte immer noch Bestand gehabt, ist trotz aller Mächtigkeit nie ganz aus meinem letzten Rest Verstand verschwunden. Der Gedanke, dass er es nicht verdient hat, dass ich sein Leben zerstöre. Und das hätte ich damit getan. Aber ein "Leben" außer der physischen Existenz hatte ich schon lange nicht mehr und das Gefühl, dass dies auf ewig so bleiben würde. Innerlich war ich nahezu tot.
"Käseglocke" nannte mein Arzt die Psychiatrie. Er glaubte, dass ein geschützter Raum für mich notwendig sei, in dem ich für einige Zeit zur Ruhe kommen, alle Verantwortung abgeben und einen Teil meiner Kämpfe aufgeben könnte. Es wurde so viel mehr...
Ich bekam Ruhe. Ganz viel Ruhe. Und Fürsorge. Wurde mit uneingeschränkter Achtung und mit Respekt behandelt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich gefragt, was ich brauche. Hier und jetzt, in diesem Moment, und überhaupt. Zum ersten Mal spürten Menschen, dass ich nicht von selbst reden, um etwas bitten konnte, und boten mir etwas an. Ich musste nur zugreifen, alles andere, zu dem ich ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, wurde mir einfühlsam und behutsam abgenommen.
Und zum ersten Mal war ich nicht "die Andere". Hier waren alle "anders". Ich durfte "sein", einfach so, so wie ich bin. ohne Erwartungen anderer erfüllen oder auf irgendetwas von außen achtgeben zu müssen, meine über Jahrzehnte angenommene und verinnerlichte Fassade aufrecht erhalten zu müssen. Ich konnte mich selbst zulassen, mich selbst bzw. die Reste davon tatsächlich mit einer schützenden Käseglocke um mich herum anschauen und fühlen lernen... kennenlernen.
Und da gab es so viel zu fühlen...Wenn ich gedacht hatte, ich hätte im letzten Jahr bereits angefangen nie zugelassene Gefühle in mir zu entdecken, jetzt wurde ich eines Besseren belehrt. Ich hatte bis dahin nur die Oberfläche angekratzt und die war schon kaum zu ertragen gewesen, doch jetzt wurde ich von Mächtigkeiten überrollt, die ich mir nie hätte vorstellen können. Gleichzeitig spürte ich, dass ich dem nicht entgehen kann, dass es das ist, was in mir ist und war, all die Jahre, verborgen, zugeschüttet vor (un)bewusster Angst, dass ich das nicht überleben könnte, wenn ich all das tatsächlich fühlen müsste. Ich wusste, dass ich durch diese Hölle durch muss, dass all das zu mir gehört, ob ich es haben will oder nicht. Kraft für einen weiteren Widerstandskampf gab es ohnehin nicht mehr. Und so ließ ich es zu und all das, was es mit sich brachte. Tage an denen ich nicht aufhören konnte zu weinen, Tage an denen ich mich nicht mehr bewegen konnte, weil das bisschen Kraft, was mich noch aufrecht gehalten hatte, durch die vergangenen Wochen aufgebraucht war. Tage an denen ich nicht aus dem Bett durfte, weil ich es nicht wert war, keine Berechtigung hatte zu sein.
All das durfte sein. Die Umgebung der Psychiatrie gab die Möglichkeit dazu. Ich hatte den Raum, den ich brauchte. Lernte ihn und auch aktive Unterstützung durch das Personal anzunehmen. Menschen, die regelmäßig von sich aus schauten, wie es mir geht, ob ich etwas brauche. Die mein so großes Bedürfnis nach Reden und Weinen spürten und sich zur Verfügung stellten. Die mich mit aus dem Bett befreiten, wenn ich nicht rausdurfte. Die mir auch zugestanden etwas nicht zu schaffen. Dieser Umgang mit mir, diese Vermittlung des Gefühls, dass ich sein darf wie ich bin, mit allen Versehrtheiten und Schwierigkeiten, mich trotz dem, wie ich bin, Menschen mögen und für mich da sind, gab mir ein Gefühl der Sicherheit, der Berechtigung. Und ließ mich lernen nicht nur die angebotene Hilfe zu nutzen sondern selbst um Hilfe zu bitten. Dass ich sie immer und ganz selbstverständlich bekam, war zunächst unglaublich aber trug schließlich weiter zu Sicherheit und Stabilität für den Moment bei.
Und dann kam Schwester E.
Bis heute weiß ich nicht genau wie sie es geschafft hat. Wieder einmal hatte ich darum gebeten mit jemandem reden zu können. Ich hatte genau sie angesprochen, weil sie so viel Kraft ausstrahlte. Kraft, die ich in dieser Zeit nicht hatte aber so sehr brauchte. Schwester E. setzte sich mit mir in den Garten, hörte mir zu, sprach mit mir. Aus ihrem Mund klang vieles so klar und einfach. So als müssten einige Dinge nur angepackt werden und als gäbe es Hoffnung, trotz all dem, was mir passiert und in mir zerstört worden war. In dem Moment war es ein Gespräch wie viele andere aber irgendetwas wirkte noch nach als ich schon längst wieder auf meinem Zimmer war. Und plötzlich war es da... Ich spürte etwas ganz tief in mir drin, ganz tief und versteckt aber es war eindeutig da: ein Funke von Leben!
Ganz leise und zaghaft zeigte er sich, zeigte er, dass er da war. Dass da doch noch etwas in mir ist, etwas lebt, wo sich zuletzt alles zerstört und abgestorben angefühlt hatte.
Nun war es ein positives Gefühl, das überwältigte... Ich konnte es kaum fassen, versuchte wieder und immer wieder diesen Funken zu spüren - und er war und blieb tatsächlich spürbar. Ich hielt ihn fest, ganz vorsichtig aber beschützend, er war von so unschätzbarem Wert! Und mit ihm kam noch etwas anderes, nämlich der Wille wieder zu kämpfen. Zu kämpfen um mich, um den kläglichen Rest meiner Seele. Die es verdient hatte beschützt und gepflegt zu werden, weiter zu leben.
Kaum spürbar war dieser Anfang zunächst. Aber ich war nicht bereit, dieses winzige Etwas wieder loszulassen. Ich habe ein Leben verdient, meine geschundene Seele ist es wert zu leben, auch wir dürfen eine Chance bekommen. Und ich nutze sie. Jeden einzelnen Tag.
Seither ist viel passiert. In 2 Monaten stationärer Psychiatrie und weiteren 2 Monaten Tagesklinik wurde mir ein neues Leben eröffnet. Habe ICH mir ein neues Leben eröffnet. Unterstützt durch wunderbare Schwestern und Pfleger, Ärzte und Therapeuten, die mir neue Perspektiven aufgezeigt und greifbare Strategien zur Lebensbewältigung an die Hand gegeben haben. Sie mit mir geübt haben, immer und immer wieder. Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es angstfreie Momente. Zum ersten Mal in meinem Leben darf und kann ich atmen. Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, dass ich doch fähig bin, mit anderen Menschen in Kontakt zu gehen, mich auf Menschen einzulassen. Und dass ich dabei sogar ich sein darf. So wie ich bin..
Ich weiß, dass es Rückschläge geben wird. Sie werden nicht schön sein doch ich weiß, dass ich sie bewältigen kann. Ich habe begriffen, dass ich selbst viel Verständnis für mich haben muss und manchmal auch Dinge an mir einfach hinnehmen und akzeptieren muss, ohne sie erklären und begründen zu können. Dass ich meine Erwartungen an mich selbst weit zurückschrauben muss. Und es lohnt sich: Jeden Tag erbringe ich eine große Leistung. Ich erbringe sie für mich, denn ich bin es wert. Die Belohnung ist etwas nie für möglich Gehaltenes: die Erfahrung, dass auch ich mit viel Geduld in ein "Leben" finden kann, in ein über die physische Existenz hinaus gehendes lebenswertes Dasein...
Der 27. April 2014 ist mein Zweiter Geburtstag. Schwester E. hat ihn mir geschenkt. Ich werde ihr auf ewig dankbar sein.
Ich bin wieder da.
Und bleibe.